Rettung

 

Jarula hatte wenig geschlafen. Die feuchte Nachtkälte hatte seine Glieder klamm gemacht. Das harte Holz, auf dem er ruhte, ließ ihn immer wieder wach werden. Müde und zerschlagen glitt er vom Stamm herunter und erwartete sehnsüchtig die wärmenden Sonnenstrahlen.

Er überdachte seine Lage. Gottlob waren noch in seiner Tasche die Schokolade und die Mandeln, die ihm die Dame geschenkt hatte, so war fürs erste ein wenig gesorgt. Wie aber sollte es weitergehen?

»Wenn ich schwimmen könnte, müsste ich nicht hier bleiben. Friedrich, Anton und Stefan hatten recht, dass sie mich auslachten, aber wo sollte ich es gelernt haben?« So grübelte er in sich hinein.

Da fiel ihm ein Buch ein, das er einmal gelesen hatte, darin ein Schiffsbrüchiger sich zu helfen wusste.

»So will ich es auch machen«, sagte er zu sich.

Er zog sein Hemd aus und hing es an den weit ausgestreckten Ast eines verdorrten Baumes, so dass es nun aussah, als ob eine weiße Fahne an einer Stange über dem See winken würde. Wenn jemand mit einem Boot hier vorbeifahren sollte, würde er dieses winkende Weiße wohl entdecken; das war seine einzige Hoffnung.

Auf der Insel gab es nichts Essbares. Der kleine Vorrat von Schokolade und gebrannten Mandeln war bald verzehrt. Der Durst meldete sich. Das Wasser aus dem See war nicht trinkbar, das wusste Jarula. In seiner Not nahm er Blätter, die er zwischen den Zähnen langsam zerkaute, um auf diese Weise die trockene Kehle ein wenig anzufeuchten.

Er legte sich wieder auf die Stammgabel, auf der er die Nacht verbracht hatte. Dann dachte er an die drei Knaben.

»Ob sie mich suchen werden?«

Da riss ihn das tiefe Bellen eines großen Hundes aus seinen Gedanken.

Sofort stellte er sich auf. Aber er sah nichts. Er ließ sich am Stamm herab. Das Bellen verstärkte sich. Er lief an die Stelle des Ufers, an der er die Insel betreten hatte. Nun sah er ein Schlauchboot im Strom auftauchen, das sich rasch näherte.

»Ich will winken«, dachte er.

Aufgeregt kletterte er auf den abgestorbenen Baum hinauf, wo sein Hemd als weißer Fleck in mittlerer Stammhöhe leuchtete. Das Boot war nun beinahe in gleicher Höhe mit ihm.

»Hallo, hallo«, rief er über das Wasser.

Er schob sich immer weiter auf dem Ast vor, um das Hemd zu ergreifen.

Da brach der Ast unter seinem Gewicht und er stürzte mit ihm hinab.

Der Fall wurde dadurch verringert, dass die übrigen Äste die Geschwindigkeit immer wieder aufhielten. Als er am Boden aufschlug, verlor er das Bewusstsein. Der Ast aber war mit dem Hemd daran in die Strömung gelangt.

Das Rufen hatten die Menschen im Boot nicht gehört. Durch das Fernglas aber nahm ein Mann vom Rettungsdienst eine Bewegung am Ufer der Insel wahr. Zugleich sprang der Hund über Bord und schwamm auf die Insel zu.

Da wussten sie, dass das Tier die Spur gefunden hatte, und sie folgten ihm sogleich. Sie legten am Ufer an. Der Hund stand wedelnd da, sah sie mit klugen Augen an, drehte sich um und führte sie zu dem noch immer bewusstlos daliegenden Knaben.

»Lebt er?« fragte Herr Mertens mit stockendem Atem.

»Ja«, sagte der Sanitäter. »Er wird aber noch einige Zeit brauchen, um zu sich zu kommen. Er scheint sehr geschwächt zu sein.«

Sie legten Jarula auf eine Tragbahre und brachten ihn behutsam in das Boot. Der Sanitäter gab ihm belebende Mittel.

]arula kam langsam zu sich. Der Hund lag daneben und ließ den Jungen nicht aus den Augen. Herr Mertens war überglücklich, dass der Knabe gefunden war. Erst in diesen Stunden der Angst wurde ihm klar, dass er das fremde Kind genauso liebte wie seine eigenen Kinder.

Als ]arula seine Augen öffnete, sah er in das frohe Antlitz Onkel Mertens'. Glücklich lächelnd schloss er wieder die Augen.

Der Sanitäter aber ließ einen neuen Schwächeanfall des Kindes nicht mehr aufkommen. Er gab ihm zu trinken und ein wenig zu essen. So fühlte sich ]arula bald wieder kräftiger trotz seiner Schmerzen, die er bei jeder Bewegung spürte.

Als sie im Sanitätsgebäude ankamen, stellte der Arzt fest, dass zwar Prellungen, aber keine Knochenbrüche oder innere Verletzungen vorlagen. Da atmete Onkel Mertens das zweite Mal tief auf.

»Das andere werden wir bald haben« tröstete er.

Das Behandeln der Abschürfungen verursachte noch große Pein, aber nachdem die Pflaster endlich darüber lagen, ging Herr Mertens mit ]arula nach Hause.

Wie groß war dort die Freude! ]arula ließ sich von allen umarmen, obgleich es ihm sehr weh tat.

»O Tante Mertens, wie froh bin ich, dass ich bei euch sein darf«, sagte er.

Da schlug das Herz der Frau Mertens freudig. Sie strich dem Knaben sanft über das Haar.

»Auch ich bin froh, dass du wieder da bist, mein Kind«, sagte sie leise. »Aber nun wirst du erst schlafen, dann bist du frisch und kannst uns erzählen, wie du auf die Insel gekommen bist. Mir scheint, du hast Begabung zu außerordentlichen Erlebnissen!« Lächelnd drohte sie ihm mit dem Finger. Sie bettete ihn in ihr eigenes Bett.

»Hier liegst du am ruhigsten.«

Mütterlich küsste sie den Knaben auf die Stirn. Dann ging sie, nachdem sie die Vorhänge heruntergezogen hatte, leise hinaus.

Während Jarula tief schlief, erzählte Herr Mertens, wie das Kind gefunden worden war.

»So ein Abenteuer möchte ich auch mal erleben«, rief Friedrich beinahe neidisch aus.

»Lieber nicht«, lächelte die Mutter, »nicht immer geht es so gut aus.«

Das Dorchen sagte:

»Aber jetzt ist Jarula wieder da. Das ist die Hauptsache.«

Und damit hatte sie ausgesprochen, was alle fühlten.

(...)

 

Aus: Felicitas Muche: »Jarula, das Kind der silbernen Stadt«

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